Ist die Positive Psychologie „positiv“ und „ganzheitlich“?

Eine Leserin meines "Handbuchs Positive Psychologie" stellte zwei interessante Fragen:

  • gerne möchte ich Ihnen eine Frage zu Ihrem Buch „Positive Psychologie - Ein Handbuch für die Praxis“ stellen. Ich beziehe mich auf Seite 21: „Positive Psychologie (nach Seligman & Kollegen) ist nicht gleichzusetzen mit Positiver Psychologie (nach Peseschkian)". Hier schreiben Sie: „Der zentrale Begriff ‚positiv‘ ist nicht im Sinne einer Wertung zu verstehen, sondern ‚positiv‘ bedeutet hier entsprechend seiner ursprünglichen Bedeutung (Lateinisch: positum) das Tatsächliche, das Vorgegebene. Verstehe ich das richtig, dass sich diese Beschreibung bloß auf ‚positiv‘ im Rahmen der Positiven Psychotherapie bezieht und eben nicht Positive Psychologie. Oder gilt die Beschreibung für beide Ansätze?
  •  Außerdem möchte ich gerne nachfragen, ob beide Ansätze von einem ganzheitlichen Menschenbild ausgehen. Für die Positiven Psychotherapie wird das explizit in Ihrem Buch genannt, nicht aber so für die Positive Psychologie. 

Hier meine Antwort an die Leserin:

Die beste Definition Positiver Psychologie ist meiner Meinung nach die von Chris Peterson: PP is the science of what goes right in life. Auf Deutsch übersetze ich das in der Regel mit „Wissenschaft vom gelingenden Leben“. Insofern kann man „positiv“ in der PP mit Begriffen wie „gut, gelingend, wachstumsfördernd“ umschreiben oder, um Peterson noch einmal zu zitieren, mit north of neutral. In der Positiven Psychotherapie von Peseschkian wird „positiv“ dagegen als „gegeben“ definiert, doch dabei muss man auch berücksichtigen, wann Peseschkian dies formulierte. Das war in den 60er Jahren und seitdem ist durch die Arbeiten von (zum Beispiel) Ed Diener (Wohlbefinden), Robert Emmons (Dankbarkeit) und Barbara Fredrickson (positive Emotionen) eine stabiler Grundstock aus Forschungsergebnissen entstanden, auf dem Seligman die heutige PP 1998 als eigenständiges Forschungsgebiet etablieren konnte.

Wichtig ist, dass wir nicht dabei stehen bleiben, was 1998 als PP postuliert wurde. In den knapp 20 Jahren seither hat sich viel getan, vor allem durch das zunehmende Integrieren des „Negativen“. Die PP richtet inzwischen ihren Blick nicht nur darauf, wie Menschen unter günstigen Umständen zum gelingenden Leben finden können, sondern auch und gerade unter ungünstigen Bedingungen. Dies wird als „zweite Welle der PP“ bzw. „PP 2.0“ bezeichnet; dazu gehören zum Beispiel Forschungsthemen wie Resilienz, posttraumatisches Wachstum und Sinngebung.

Deshalb ist es nicht ganz so einfach, auf Ihre Frage nach dem „positiv“ in „Positiver Psychologie“ kurz zu antworten. Die Thematik ist vielschichtig und spannend!

Zu Ihrer zweiten Frage nach dem ganzheitlichen Menschenbild in der PP: Dies ergibt sich bereits teilweise aus dem oben beschriebenen. Ja, die PP betrachtet den Menschen ganzheitlich, und das unterscheidet sie ja gerade von der klassischen klinischen Psychologie, die ihren Fokus auf die Diagnose und Behandlung psychischer Störungen oder Leiden richtet. Die PP betrachtet (spätestens seit der PP 2.0 auch explizit) den Menschen in der Gesamtheit seiner Emotionen, Werte und Bedürfnisse. Wer dies zum Beispiel aktuell klar und überzeugend vertritt, sind Todd Kashdan und Robert Biswas-Diener (der Sohn Ed Dieners) mit ihrem Buch „The Upside of your Dark Side“.

Außerdem steht die PP auf der Grundlage der Humanistischen Psychologie (Rogers, Maslow u.a.), die den Menschen als grundsätzlich orientiert an Wachstum (und eben nicht an Defizit) versteht. Das ist ein weiterer Beleg für den ganzheitlichen Ansatz der PP.

Ich hoffe, dass ich Ihre Fragen beantworten konnte. Wenn Sie mehr dazu wissen wollen bzw. weiter im Gespräch darüber bleiben möchten, dann schreiben Sie mir gerne wieder.

Herzliche Grüße
Daniela Blickhan